Ich bin – wie man mir sagte – am 8.10.1935 in Matzen im Allgäu geboren. Wir waren acht Kinder, vier Mädchen und vier Knaben. Von den Mädchen war ich die vierte. An meinem achten Lebenstag wurde ich katholisch getauft und erhielt den Namen Rosa. Wir wohnten in Matzen, 3km ausserhalb von Eisenharz.

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Ich kann auch in der Welt Barmherzigkeit üben

Rosa Benesch (Ehemalige römisch-katholische Nonne)

Ich ging mit Nachbarskindern in den Kindergarten. Auf dem Schulweg kamen wir an vier Kreuzen vorbei. Das erste stand beim Haus unserer Nachbarn, das zweite auf einer Anhöhe, von wo ich unser Haus mittten unter den anderen Häusern erblickte, umgeben von Wald. Das dritte stand in einem kleinen Weiler. Ein grosses Kreuz mit einem gekreuzigten Jesus stand schliesslich nahe der Rundkapelle Eisenharz, der Stephanuskapelle. Noch heute findet dort jeweils am Tag nach Weihnachten die traditionelle Pferdesegnung statt.

Kindheit mit Schatten

Als ich vier Jahre alt war, erlebte ich etwas Schlimmes: Ich wurde von einer jungen Kuh umgerannt. Seit diesem Unglück stotterte ich. Das hat mein Leben sehr geprägt.

Mein Vater hatte eine Bibel. Eine Zeitlang las er abends darin. Das hat mich beeindruckt und einmal nahm ich sie mit in mein Zimmer. Ich las darin bis Vater rief: „Mach das Licht aus!“ Da legte ich sie zurück an ihren Platz. Verstanden hatte ich nicht viel.

Leider ging Vater am Sonntag nicht zur Kirche. Mir war es wichtig, dass wenigstens unsere Mutter zur Messe gehen konnte und ich versicherte ihr, dass ich für meine Reinheit einstehen würde. Als Vater tatsächlich kam und mich umarmen wollte, stoppte ich ihn mit den Worten: „Nein, Vater, ich will ins Kloster“. Darauf liess er mich sofort los. Ich war sehr froh. An die Liebe meiner Mutter erinnere ich mich dankbar. Wenn wir Kinder abends im Bett waren und der Vater mit der Mutter schimpfte, blieb sie still. Nur selten sagte sie etwas.

Nachdem der alte Priester gestorben war, bekamen wir einen Jugend-Seelsorger. Er schenkte mir ein Buch der „Heiligen Theresia vom Kinde Jesu“[1], das mich eine Zeitlang sehr bewegte. Doch dann vergass ich es wieder. Sowieso sprach dieses Buch über das Leben in einem geschlossenen Kloster, dieses ist ganz anders als in dem offenen Kloster, in das ich dann eintrat.

Bis ich 21 Jahre alt war, lebte ich zu Hause. Meine drei älteren Schwestern hatten alle eine Dienststelle inne. Von einer Schulkameradin hörte ich, dass die Franziskanerinnen ein Dienstmädchen für ihre Aussenstation in Altshausen suchten. Ich bekam die Stelle und diente einige Jahre dort. In dieser Zeit lernte ich auch drei junge gehörlose Menschen kennen (damals sagte man taubstumm). Endlich war ich nicht mehr die Einzige, die Mühe hatte zu sprechen!

Vom Leben im Kloster

Schliesslich kam ein Brief vom Kloster der Franziskanerinnen von Reute. Sie waren bereit, mich trotz meiner Sprachbehinderung aufzunehmen. Ich habe geweint vor Freude. Meine Eltern waren beide sehr stolz auf mich. Im Kloster war ich zuerst Kandidatin, dann Postulantin, danach Novizin, worauf wir die zeitlichen Gelübde ablegten. Drei Jahre später waren die Gelübde endgültig. Auf der Foto sieht man mich am Tag der Einkleidung als Schwester (2. von rechts.) Die Arbeiten, die es im Kloster zu tun gab, habe ich alle durch Zuschauen gelernt, auch die Nachtwache, die später zu meinen Aufgaben gehörte.

Im Kloster gab es manches, was ich mit meinem Glauben nicht vereinbaren konnte. Damals hatte ich schon eine Bibel. Mit dem Rosenkranz hatte ich Mühe, aber ich liebte den Kreuzweg.[2]

Probleme hatte ich auch wegen meinem Stottern. Die Schwestern machten sich lustig über mich und äfften mich nach. Sogar der Superior machte mich nach, aber als ich ihn meine verletzten Gefühle merken liess, sah er ein, dass es nicht schön ist, jemanden so zu verspotten. Er kam zu mir und fragte, ob ich ihm noch böse sei.

Es gehörte zu meinen Aufgaben, abends ab 9 Uhr im Speisesaal die Fenster zu schliessen. Dabei kam es einmal zu einer kurzen Unterhaltung, aber kaum blieb mir ein Buchstabe stecken, lachten alle, auch die Generaloberin. Ich hatte einen Satz aus der Bibel im Kopf, aus Matthäus 25: „Was ihr einem der Geringsten tut, das tut ihr mir“. Da ging ich hin, schrieb den Vers ab und legte den Zettel an ihren Platz: „Und der König wird ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Matthäusevangelium 25,40). Als mir die Oberin untertags begegnete, musste ich mit ihr ins Amtszimmer. Sie hatte kein Verständnis für mich. Im Stillen betete ich, dass ich kein böses Wort zu ihr sage. So sagte ich nur: „Ich weiss, dass ich keine Heilige bin, aber Sie sind auch keine.“ Bald danach musste sie sich zum zweiten Mal operieren lassen und wachte nicht mehr auf.

Ich war tatsächlich keine Heilige. Einmal verpasste ich einer jungen Schwester eine saftige Ohrfeige, weil sie mein Stottern nachäffte. Erst nach und nach machte ich mir über mein Verhalten Gedanken. Ich wollte sie um Vergebung bitten, sah sie jedoch nie mehr.

Eine Köchin ging mit einer anderen Schwester in das Kühlhaus. Später verliess sie das Kühlhaus allein und schloss zu. Zum Glück waren Arbeiter in der Nähe und hörten das Klopfen und Rufen. Sie haben es verstanden und die Schwester wurde befreit. Allerdings hat sie seit da nichts mehr gesprochen. Schliesslich wurde sie nach Rottenmünster in die Psychiatrie gebracht, bis sie wieder gesund war.

Und dann habe ich noch diese Geschichte: Die Schwestern hatten es manchmal sehr lustig miteinander, das konnte eine ältere Schwester gar nicht leiden. Fröhlichsein passte nicht in ihre Vorstellung von Heiligkeit, sie war immer ganz ernst. Einmal habe ich ihr gut zugesprochen. Bei der nächsten Messe sassen wir beide hinten in der Kapelle und als der Priester die Schwestern vor der Kommunion aufforderte, einander die Hand zu reichen, streckte sie mir die Zunge raus. Ich war völlig schockiert.

Meine Entscheidung stand fest. Ich kann auch in der Welt Barmherzigkeit üben! Von einer Freundin, die das Kloster nach sieben Jahren verlassen hatte, wusste ich, dass man mit der Bitte um Entlassung von den Gelübden an den Superior schreiben muss. Das habe ich dann auch getan.

In der Sprachschule

Als ich aus dem Kloster ausgetreten war, suchte ich eine Sprachschule. Ich wollte endlich richtig sprechen lernen. Die Arbeitslosenkasse und die Rentenkasse haben mir schliesslich einen dreimonatigen Kurs in Meisenheim in der Pfalz an der Glan bezahlt. Ganz nahe von unserem Gebäude befand sich die Kopfklinik. Ich war die älteste Kursteilnehmerin. Ich hatte wieder Hoffnung: Ich musste nur fest üben. Der Sprachlehrer sah das anders, er wollte mich los werden und verabschiedete mich nach einigen Wochen. Entrüstet sagte ich zu ihm: „Ich gehe nicht, ehe ich reden kann!“ Er schaute mich ganz überrascht an, erstaunt über meinen Mut.

Kurz darauf kam ein 19-jähriges Mädchen, das noch viel mehr stotterte als ich, ins Sprachzentrum; ihre Mutter war Alkoholikerin. Der Sprachlehrer machte eine Zweiergruppe aus uns beiden und gab uns eine gute Anweisung: Wir sollten viel spazieren gehen und dabei üben, langsam zu reden. Wir sollten die Buchstaben ganz langsam hinausziehen, so wie er es uns vormachte. Das war gar nicht so einfach. Die schwierigsten Buchstaben waren SCH, B, P und W. Doch nach drei Wochen wagte ich es: Ich trat in dem Schulungsraum ans Mikrofon und hielt mein vorbereitetes Referat. Ich konzentrierte mich so sehr darauf, alles ohne stecken zu bleiben zu lesen, dass ich gar nicht merkte, ob jemand da war und zuhörte. Welch riesige Last fiel von mir ab, als ich ohne Stottern zu Ende gekommen war. Viele Menschen, die mich kannten, freuten sich mit mir. Ich kann nur dem Herrn Jesus danken. Das darf ich auch den Menschen in meiner Umgebung zu Gottes Ehre bezeugen.

Eine weitere Entscheidung

Meine Erwartungen an das Leben im Kloster hatten sich nicht erfüllt. Und nun traf ich eine weitere Entscheidung, die sich als falsch herausstellte. Ich heiratete einen Mann, der mich nach 18 Jahren Ehe mit den Worten wegschickte, er habe mich nie geliebt. Und doch hat Gott mich auch in dieser Zeit geführt. Ich dachte über meinen bisherigen Lebensweg nach und merkte: Ich bin weder im Kloster noch in der Ehe glücklich geworden. Ich bin Jesus nicht ungeteilt gefolgt und habe ihm nicht völlig gedient. Aber Jesus kann man nur ganz haben oder gar nicht.

1986 trat ich aus der römisch-katholischen Kirche aus. Ich wusste, dass es nötig war, wenn ich Jesus Christus wirklich nachfolgen wollte. Er hatte mich erfasst, meine Gewissheit war fest. Ich ich bin zu Jesus unter das Kreuz gekommen, er hat mich mit seinem kostbaren Blut reingewaschen, er hat die Strafe für meine Schuld getragen. Er hat sich ganz hingegeben und nun machte ich auch mit meiner Hingabe Ernst.

Ich kann keine theoretischen Erklärungen über die Wiedergeburt geben, aber ich bin von Ihm geliebt, das weiss ich gewiss. Ich erlebe auch seine Führung bis zum heutigen Tag. Ich bin tief dankbar für die Unterstützung durch echte, bibelgläubige Christen, die mir mit grosser Hingabe zur Seite stehen, auch jetzt in meinem hohen Alter. Mit ihnen konnte ich viele christliche Tagungen erleben, bei der IABC in Stuttgart, in der Arche in Ebnat-Kappel in der Schweiz, aber auch die sonntägliche Gemeinschaft mit Geschwistern in Crailsheim ist mir sehr wertvoll.

Gott ist der Geber aller guten Gaben, bis wir am Ziel sind. Ihm gebührt Dank und Anbetung.

Zum Schluss möchte ich noch ein Lied anfügen, das ich einmal während der Nachtwache einem schwerkranken Priester vorgesprochen habe.

1) Jesu, Jesu, komm zu mir,
o, wie sehn ich mich nach dir!
Meiner Seele bester Freund,
wann werd' ich mit dir vereint?

2) Tausendmal begehr' ich dein,
leben ohne dich ist Pein;
tausendmal seufz' ich zu dir:
o Herr Jesu, komm zu mir!

3) Keine Lust ist in der Welt,
die mein Herz zufrieden stellt;
deine Liebe, Herr, allein
kann mein ganzes Herz erfreun!

4) Darum sehn' ich mich nach dir;
eile, Jesus, komm zu mir!
Nimm mein ganzes Herz für dich
und besitz es ewiglich.

[1] Theresia von Lisieux, Nonne, Mystikerin, 1873-1897

[2] Eine spezielle Wegstrecke innerhalb des Klostergeländes mit verschiedenen Stationen, bei denen an den Leidensweg Christi gedacht wird.

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